Abgerissener „Weidenberg“ lebt weiter

Bis 1972 grenzte ein Traditionsgasthaus an den St. Guido-Stifts-Platz

Unbenommen des von den Zeitläufen arg mitgenommenen Zustands:  Zu den prägenden Gebäuden des St. Guido-Stift-Platzes gehörte bis 1969 das „Gasthaus zum Weidenberg“. Sein Abriss machte viele Speyerer und Dorfbewohner aus der Umgebung fassungslos und auch traurig.

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Nach langen Diskussionen hatte der Stadtrat im November jenen Jahres beschlossen: Der 260 Jahre alte „Kasten“, von der Bausubstanz her nicht allzu wertvoll, muss weg. Elisabeth Jester und ihre Tochter, die weithin bekannte, heute 87-jährige „Liesl“ als Alleinbesitzerin, konnten die Sanierungskosten nicht tragen.

Der Abriss der Traditionswirtschaft begann am 7. Februar 1972. Der neue Besitzer, das Diözesan-Siedlungswerk, ließ einen Zweckneubau mit Räumlichkeiten für ein Bankinstitut, Praxen und Wohnungen errichten.

Nach einer Chronik von 1714 stand das fast 40 Meter breite, zweistöckige Gebäude mit großem Speicher bereits zu jener Zeit. Es war eines von vermutlich sieben des Stifts St. Guido auf dem Weidenberg und hatte offenbar den Stadtbrand 1689 mehr oder minder unbeschadet überstanden.

Ein Kanonikus (Geistlicher, Chorherr) namens Vomelius wird als erster Hausherr erwähnt, 1772 dessen Berufskollege Ursulinus. 1776 war es vorbei mit der kirchlichen Beschaulichkeit – französische Revolutionstruppen zogen in Speyer ein. Bei Kampfhandlungen kriegte auch das Kanonikus-Haus einiges ab.

Es wurde offenbar von der Stiftsverwaltung wieder repariert und zum Kauf angeboten. Zunächst vergeblich. Eine Versteigerung am 30. September 1807, bei Haus nebst Garten für 3840 Francs angeboten wurden, verlief ohne Verkaufsergebnis.

1810 war es soweit. Der Mehlhändler Balthasar Grosius kaufte es. Und als die Straße in Richtung Worms 1812 begradigt wurde und sein großes Haus fast an deren Rand rückte, erkannte Grosius die Zeichen der Zeit und eröffnete eine Gastwirtschaft.

Die florierte an der einzigen nördlichen Speyerer Eingangsstraße offenbar auf Anhieb. Fuhrleute machten hier Station, Bauern vornehmlich aus Otterstadt und Waldsee kehrten an Markttagen und wenn sie Tabakladungen zu Zigarrenfabrikanten brachten, im „Weidenberg“ ein. Bis zum Hausabriss hingen Ringe am Haus, an denen Zugpferde und -ochsen angebunden werden konnten.

Mit der Zeit wurde der Gasthof auch eine beliebte Herberge für Bäckergesellen, die bis vor dem 2. Weltkrieg noch auf Wanderschaft gingen. Im „Weidenberg“ ließen sie sich an örtliche Bäckereien vermitteln, ein  Bäckermeister Weck (!) organisierte das. Zudem unterzogen sich dörfliche Wehrpflichtige, die im blumengeschmückten Fuhrwerk nach Speyer gerollt waren, hier gern einer weiteren „Tauglichkeitsprüfung“.

1830 kaufe ein Landri oder Landry den  Gasthof, veräußerte ihn aber schon ein Jahr später wieder. Der Bäcker und Wirt Jakob Möser zahlte ihm gut 2000 Gulden dafür. Nach dessen Tod ging der „Weidenberg“ per Schenkung an die Witwe Anna Maria Hoffmann über. Die ließ 1869 eine Scheune anbauen, um mehr Gäste beherbergen zu können.

Die nächste Besitzerin war ab dem 9. Mai 1880 die Tochter des vorherigen Eigentümers Möser, Magdalena Bregenzer. Sie, bzw. ihr Mann Jakob führten das Haus bis 1892 und verkauften es dann für 24.000 Mark an den Müller Konrad Manz. Der wiederum überließ es am 12. April 1900 für 30.00 Mark dem Wirt und Dreschmaschinen-Besitzer Heinrich Detzner.

Nach dem Ableben am 3. Juni 1943 ging der „Weidenberg“ an seine Witwe Maria und danach an die Töchter Elisabeth Jester und Eugenie Schey. Als Eugenie ihren Erbteil verkaufte, wurde ihre Schwester Elisabeth am 2. Oktober 1951 Alleinerbin.

Sie und ihre Tochter Liesel verhalfen dem „Gasthof zum Weidenberg“ zu einer Art Kultstatus. Woran Liesl mit ihrer Eigenwilligkeit besonderen Anteil hatte. Unter anderem rechnete sie im Gastraum, von dessen Decke ein Pflug herabhing und stets das „Lämpl“ eines Nachwächters flackerte, statt nach Mark stets nach Pfennigen ab. Den Betrag hielt sie mit Kreide auf einer Schulschiefertafel fest, samt manchmal sich ergebendem „Übertrag“ auf deren anderen Seite.

Prunkstück im „Weidenberg“, der sich in den 1968-ern auch des regen Besuchs von Anhängern der „Flower-Power“-Richtung erfreute, aber war das Orchestrion. 1902 gebaut, bot es 18 Musikstücke und „donnerte“ nach dem Einwurf eines Zehn-Pfennig-Stücks los. Die Wirtin erinnert sich: „Meistens mit „Alte Kameraden“.

Nach dem Hausabriss zogen der Mordstrumm von bemaltem Musikschrank samt anderem Mobilar und der Wirtin Liesl Jester in den „neuen“ Weidenberg in der St.-Guido-Straße um. Dort bestand der Gasthof weiter bis Ende 1995. Das einst 4000 Goldmark teure Orchestrion und die anderen Möbel übergab die Besitzerin dem Museum für Musikinstrumente im Bruchsaler Schloss. Dort sind die Originale aus Speyer als „Historische Wirtschaft“ zu besichtigen. Die kann sogar gemietet werden – der „Weidenberg“ lebt demnach weiter. – Wolfgang Kauer (aus der Reihe: Stadtgeschichte(n) in der RHEINPFALZ, 2013); Bild: Frau Cantzler

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