Der unbequeme Dichter vom Altpörtel

STADTGESCHICHTE(N): Als es in Speyer noch Türmer gab – Georg W. Heren war der Eigenwilligste

Das türmereiche Speyer hat keinen mehr. Es ist damit in Deutschland nicht allein. Nur noch vier Städte haben ständig eingesetzte Türmer, wobei es sich in Bad Wimpfen und Münster um Türmerinnen handelt, in Annaberg-Buchholz um eine dreiköpfige Familie und in Nördlingen um zwei wechselweise eingesetzte Stadtbedienstete. Aufzeichnungen über Speyerer „Turmleute“ gibt es erst seit nicht ganz 120 Jahren. Sie handeln ausnahmslos von den Glöcknern des Altpörtels.
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Der wohl eigenwilligste der in ihrer Persönlichkeit meist etwas „markanten“ Altpörtel-Türmer war Georg Wilhelm Heren (1861 – 1931). Den Status eines Sonderlings erwarb er sich durch allerhand Aufsehen erregende Aktionen. Stadtarchivarin Katrin Hopstock hat einige überliefert.

Der ehemalige Tagelöhner, zum Zeitpunkt seiner Einstellung als städtischer Türmer am 5. September 1913 mit 53 Jahren Invalide, hatte sich zu einer Art Lebensphilosoph mit dem fatalen Hang zu hausbackener Dichtkunst entwickelt. Heren ließ seine Poeme drucken, versuchte sie verkaufen, verschenkte manche davon aber auch.

Bereits nach nicht ganz einem Jahr fiel Türmer Heren auf. Am 23. Juli 1914 ließ die Stadt eine Sirene für Feueralarm auf dem Altpörtel montieren und dazu eine Stromleitung verlegen. Bei dieser Gelegenheit wurden auch drei elektrische Lampen angebracht, eine im Treppenhaus, zwei in der Türmerwohnung. Dass er für seinen Stromverbrauch zahlen sollte, sah Heren ein. Nicht aber, dass er auch für die Anschaffung der Lampen aufkommen sollte. Der Türmer trat deswegen kurz in Streik – und hatte insofern Erfolg, als die Stadt die Lampen wieder entfernen ließ.

Als er sich im Mai 1918 über mangelnde Beleuchtung beklagte, „um bei Aufhebung des Fliegeralarms mit einem Leichtr zum Läuten der Glocke hinauf steigen zu können und sich außerdem meine Wohnung in einem üblen Zustand befindet (‚Räuberhöhle‘)“, schaffte das städtische Bauamt alsbald Abhilfe.

Erhalten sind einige der Gedichte und Berichte des Türmers Heren aus der Zeit von 1925 bis 1927. In dem Gedicht „Hungerturm“, abgedruckt in der „Arbeiterzeitung“ vom 17. August 1925, klagt er bewegt über sein geringes Einkommen. Das sah sein Arbeitgeber offenbar anders. Die Stadt hängte ihrem „Turmvater“ umgehend ein Verfahren an und verwies auf „die Jahresbezüge von 1192,20 Mark einschließlich Invalidenrente (235,80)“. Dazu komme „ein Zentner Koks pro Woche unentgeltlich, ferner Besichtigungsgebühren und Trinkgelder“.

Im Gerede

Ein Jahr später geriet der streitbare Türmer Heren mit dem Aufsatz „Die Schpeiermer Induschtrie“ abermals ins Gerede. Stadtarchivarin Hopstock zitiert dazu aus einem Schreiben des Handelsgremiums Speyer am 15. Mai 1926 ans Bürgermeisteramt: „Die Schmähschrift des Altpörtel-Glöckners wird für zehn Pfennige an Einheimische und Fremde verkauft. Es erübrigt sich wohl, auf den Inhalt, der weder Humor noch Witz hat noch als harmloser Scherz betrachtet werden kann, näher einzugehen“. Angefragt wurde, ob das Bürgermeisteramt, „eine derartige Verunglimpfung der Speyerer Industrie-Erzeugnisse von einem Manne, der mit städtischen Geldern bezahlt wird, dulden soll“.

Weitere Werke betitelte Georg Wilhelm Heren mit „Speiermer Brick“, „S’Schtrandbad“, „Der Turmgeist“ „De Fortschritt“ und „Lerne leiden“. In dem zuletzt genannten Bericht beschreibt der Autor das „Dreckverhalten der lieben Mitmenschen ums Altpörtel herum“. Der Türmer nimmt dazu Stellung, weil er bei der Amtsübernahme von der Stadt auch verpflichtet worden war, „in einem Umkreis von ca. 100 Meter um das Altpörtel die Straßen und Plätze von Papierstücken, Speiseresten, Hundekot und Pferdemist, überhaupt von allen Verunreinigungen zu säubern. Bei trockenem Wetter sind vor dem Kehren die Straßen mit Wasser zu besprengen. Im Winter sind bei Glatteis die Straßen und Gehwege mit Sand zu bestreuen. Heren erhält einen Besen, 1 Schaufel und 1 Gießkanne kostenlos von den Stadt. Ebenso unterliegt ihm die instruktionsgemäße Bedienung der Feuermeldstelle, bzw. des Sturmapparates. Als Gegenleistung wird demselben die Wohnung im Altpörtel überlassen.“

1925 gerieten Heren und seine Frau Louise, geb. Blattner (seine erste Frau, Anna Maria, geb. Halling, war 1916 gestorben) in Schwierigkeiten. Die „Sittenabteilung der Polizei der Stadt Speyer“ unterstellte ihnen, „häufig übelbeleumdete Frauenspersonen aufgenommen und beherbergt“ zu haben. Auch finden dann Männerbesuche daselbst statt. Ein Eingreifen in die Übelstände empfiehlt sich auch deswegen, weil dadurch der historische Ruf des Altpörtels beeinträchtigt wird“. Ob den Herens jemals etwas „Unstatthaftes“ nachgewiesen wurde, ist nicht überliefert.

Als Georg Wilhelm Heren am 8. Januar 1931 starb, hatte es die Stadtverwaltung immerhin 20 Jahre mit dem eigensinnigen Altpörtel-Türmer ausgehalten.

Vorgänger und Nachfolger

Herens direkter Vorgänger war ab 1889 der Schuhmacher Georg Schappert. Der Mann wurde am 1. Oktober 1891 eingestellt, mit dem ausdrücklichen Hinweis darauf, dass er auch die Umgebung des Altpörtels zu reinigen habe (wie sein Nachfolger Heren auch). In Schapperts Vertrag mit der Stadt heißt es: „Der Gewählte hat mit seiner Familie freie Wohnung im Altpörtel und einen jährliche Gehalt von 270 Mark in Monatsraten zu beziehen“. Am 5. Januar 1891 bat dieser als „Glöckner“ verpflichtete Mann um einen Jahreszuschuss von 25 Mark „für Brenn- und Beleuchtungsmaterial sowie für die Werkzeuge der Reinigungsarbeiten“.

Als die Stadt nicht reagierte, schob Schappert am 20. Februar 1891 mit dem Hinweis auf „den strengen und kalten Winter“ nach. Und erwähnte, dass bei der „gründlichen Ausübung der Glöcknertätigkeit fast keine Zeit mehr habe für meinen Schuhmacherberuf und deswegen schon viele Kunden verloren habe“.

Die Stadt hatte hinsichtlich des Heizungszuschusses ein Einsehen, allerdings erste ein Jahr später. Da ließ sie 25 Zentner Koks („Coakes“) ins Altpörtel bringen. Im Januar 1893 lehnte sie aber eine ähnliche Zuschussbitte ab, da Schappert schon genug beziehe.

Doch der Türmer blieb unverdrossen. Am 29. September 1897 bat er darum, sein Gehalt von jährlich 25 auf 350 Mark zu erhöhen und am 23. Dezember 1911 fragte er wegen einer weiteren Steigerung seiner Bezüge nach, „weil den anderen Bediensteten und Arbeitern der Stadt mit Rücksicht auf die jetzt teueren Lebensmittel eine Aufbesserung zugebilligt wurde“.

Im Stadtarchiv überliefert ist eine Beschreibung des am 22. Mai 1913 im Altpörtel im Alter von 71 Jahre gestorbenen Georg Schappert. Der Zeitzeuge Otto Hess: „Er war großer, hagerer Gestalt, meist mit einem blauen langen Schurz angetan, sahen wir ihn, wie er mit einem Reiserbesen bedächtig Rossbollen zusammenkehrte. ….. Zur Abendzeit stand er vor dem Portal wie ein Hausherr, rauchte eine lange Pfeife und bot ein Bild feierabendlichen Friedens.“.

Das Altpörtel konnte man schon damals innen besteigen. Hess in seinen Kindheitserinnerungen: „Schappert sah es nicht gern, wenn wir auf der schmalen Galerie um den Turm herum sprangen, und schon gar nicht mochte er es, wenn einer von uns … in die Tiefe spuckte: ‚Wanns een treffe dut, hab ich de Struwwel'“.

Nach Schapperts Tod sollte es eigentlich keinen weiteren Altpörtel-Tümer mehr geben, eine Bewerbung des ehemaligen Schutzmanns und Wirts der Gaststätte „Tafelsbrunnen“, Julius Mayer, wurde am 22. Mai 1913 abgelehnt. Aber die Stadtverwaltung besann sich bald anders, und stellte vier Monate später Georg Wilhelm Heren ein.

Auf ihn folgten ab 20. März 1931 bis 17. April 1943 der ehemalige Zigarrenmacher und zeitweise Gastwirt Karl Zahn und seine Frau Karoline, geb. Fessler. Zeitzeuge Hess: ,,Er hatte sich keine schöne Zeit ausgesucht, denn mit dem dem geruhsam-beschaulichen Leben des Altpörtelglöckners war es in dieser Zeit vorbei. Alle möglichen federfuchsenden Dienststellen, hochfahrende Kommissionen und Leute in Uniformen machten ihm das Leben schwer, denn das Altpörtel war zeitweise zu einer Art trigonometrischem Punkt geworden (für Zwecke der Luftabwehr; die Red.).

Von Karl Zahn ist kaum etwas überliefert. Er war offenbar der letzte Altpörtel-Türmer. Bewerbungen nach 1943 von dem Maurer B. Lützenburger, dem Rentner Martin Schumacher, dem Kriegsversehrten Jakob Vögeli und von Christina Rühle blieben unberücksichtigt.

Früher in jeder Stadt

Früher hatte jede Stadt mindestens einen Türmer. Er hielt Ausschau nach Feinden, Wegelagerern und Feuer. Dieser Mann stieß bei Gefahr ins Horn, um städtische Wachen und Bürger zu waren. Es war ein verantwortungsvoller Posten, dennoch galt er als ehrlos. Er und seine Familie und oft auch deren direkte Nachfahren, hatten keinen Zugang zu den Ständegesellschaften und konnten meist auch nicht von anderen Zünften aufgenommen werden. Erst etwa ab Mitte des 16. Jahrhunderts ermöglichten es ihnen die Reichsgesetze von 1548 und 1577, ein Handwerk zu erlernen.

Heute gelten Türmer und Türmerinnen lediglich als Touristenattraktion. Städtische Ordnungsdienste und elektronische Brandmelder haben ihre Aufgaben übernommen, Feinde marschieren oder reiten schon längst nicht mehr auf die Städte zu. Zudem ist der Ausschankschluss der Gasthäuser amtlich geregelt. Früher dagegen forderte der Altpörtel-Türmer mit einem kleinen Glockengeläut zum Verlassen der Wirtshäuser auf. – Wolfgang Kauer (Die Rheinpfalz)

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